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Over and over and over again... was sich nach Corona ändern sollte


Vor ein paar Monaten klagte mir eine gute Bekannte, sie sei „over-socialized“ – zu viele Kontakte, die ständig anriefen, Kaffee trinken, sich mit ihr unterhalten und überhaupt sie sehen wollten. Sie käme gar nicht mehr zu den Dingen, die IHR wichtig seien. Nun ist diese Klage in Zeiten der Kontaktsperren so ziemlich vollständig in sich zusammengebrochen, doch birgt sie den Schlüssel für eine Lebensweise, die wir in diesen Tagen mit gutem Grund auf den Prüfstand stellen sollten: Es ist die „Over“-Philosophie, das Zuviel von allem, die Übertreibung, die sich in vielen Bereichen unseres Lebens und unserer Gesellschaft wie eine Krebszelle aus der Normalität heraus entwickelt hat und derer wir nicht mehr Herr werden. Dieses Gefühl tragen wir seit langer Zeit mit uns, haben es aber nie in eine grundsätzliche Frage umgewandelt.

STRESS & FREIHEIT Over-Information etwa – zu viele Informationen, ununterbrochen, 24 Stunden, aus jedem kleinsten Winkel der Welt. Terrabyte an Informationsschnipseln, die wir nicht mehr verarbeiten können. Over-Consuming – angetrieben durch sehnsuchtserfüllende Werbung, passgenau auf uns zugeschnitten, 365 Tage getrackt durch Algorithmen im Internet, mit tausenden von Dingen, die wir – wenn wir es in dieser Krise recht überlegen, nicht wirklich brauchen und noch nie wirklich gebraucht haben. Over-Consuming legitimiert sich als Treiber unseres Wohlstands, den wir freilich mit herben Umweltschäden und oftmals dem Raubbau an unserem Körper bezahlen. Vielleicht auch Over-Entertainment, die Gehetztheit hunderter paralleler toller Termine, die man tagtäglich glaubte wahrnehmen zu müssen in Kunst, Kultur, im Privaten wie im Öffentlichen. Der wachsende Stress, wenn das Wochenende entertainmentmäßig durchgetaktet werden muss und die Muße fehlt, irgendetwas davon wirklich in sich aufzunehmen und zu genießen. Oder Over-Mobiling, wenn wir unsere 14 Kurzurlaube planen oder den letzten 4000er in Chile besteigen müssen.

ICH BIN KEIN SYSTEMVERÄNDERER

Ich halte mich weder für einen radikalen Systemkritiker noch einen Verbotsapostoliker, der den Menschen vorzuschreiben gedenkt, wie sie zu leben, was sie zu denken, zu kaufen oder zu tun haben. Die Freiheit, all dies zu dürfen, gehört zu den Bausteinen unserer Gesellschaft. Es zu dürfen, heißt aber noch lange nicht, es auch tun zu müssen. Vor allem nicht, wenn es jedes vernünftige und uns nicht belastende Maß übersteigt. Wie nie zuvor höre ich Stimmen, wie schön doch die Ruhe in den Innenstädten war, wie beschaulich man die Natur genießen konnte, wie zurückhaltend man eigentlich eingekauft habe und wie wenig einem die Besuche von Restaurants, Kinos, Theater oder Festivals gefehlt haben. Natürlich lässt sich das wohlfeil sagen: Die Technologie hat in den letzten Wochen geholfen, den eingeschränkten Lebensstil abzufedern: Netflix, Lieferdienste, Online-Konferenzen, Konzert-Streamings, VR-Brillen – man konnte gut überleben, ohne überhaupt das Haus verlassen zu müssen.

GIBT ES AUCH EIN OVER-DEBATING? Doch die krebsgeschwürigen Übertreibungen, die Randepitel des Gesunden, müssen wir in den nächsten Monaten auf seine Dauerhaftigkeit abklopfen, auch wenn es Grundmauern unseres Zusammenlebens betrifft: Over-Debating ist ein weiteres Beispiel. Wenn Diskussionsfreiheit zu Überendlos-Debatten führt, die keinen finalen Konsens mehr kennen, in der sich jeder permanent aus allen Ecken der Welt zu allen beliebigen Themen äußern kann; wenn Debatten nicht auf Lösungen aus sind, sondern immer wieder neu beliebig befeuert werden können, wir also über keinerlei Debattenstruktur mehr verfügen, sondern nur über endlos anheitzte Meinungsabsonderungen, dann läuft ebenso etwas schief wie beim Over-Hyping, den immer nervöseren Aufregungszuständen einer Gesellschaft, die Gelassenheit längst verlernt hat und offenkundig nur in der schnellen Abfolge von immer heftigeren Empörungszuständen überleben kann.

Die „Over“-Gesellschaft braucht, so empfinde ich es, nach der Corona-Krise den Rückschnitt auf eine vergessene Normalität. Das Virus hat uns dieses Angebot gemacht. Es ist ist jetzt an uns, ob wir daraus etwas machen oder nicht. Ein Apfelbaum ist nicht gesund, wenn seine Äste in alle Richtungen wild ausschlagen, sondern wenn er systematisch und professionell zurückgeschnitten wird. Es ist genau diese Zeit, die wir erreicht haben. Das neue „Normal“ darf nicht das alte „Over“ sein.

Welche Beispiele haben SIE für Dinge, Lebens- oder Verhaltensweisen, die sie für übertrieben halten und die dringend zurückgeschnitten werden sollten?

Ihr Klaus-Ulrich Moeller

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